Die Arbeit mit der Stimme in Verbindung mit dem Sehen und den Augen
Zu Beginn dieses Artikels möchte ich eine Erfahrung aus einem meiner Kurse mit euch teilen.
Ich bot vor einigen Jahren einen Kurs für Chorsänger:innen an, er hieß „Chor im Flow“. Ich hatte eine Menge Übungen für die Stimme heraus gesucht, die Einfluss auf das autonome Nervensystem hatten. Dabei wurde der parasympathische Teil und die mit ihm verbundenen Sinne angesprochen, allen voran das Sehen und die Augen..
Flow-Zustände
Das Wort Flow kam irgendwann in Mode, es gibt mittlerweile einen ganzen Forschungszweig dazu. Es beschreibt einen Zustand, in dem uns etwas scheinbar mühelos gelingt, wir sehr mit uns verbunden sind und die Zeit keine Rolle mehr zu spielen scheint. Manche denken dabei auch an die frühe Kindheit, wo wir noch in der Lage zu sein schienen, uns ganz selbstvergessen mit etwas zu beschäftigen. In der Meditation sagt man dann oft, dass man ganz im Hier und Jetzt sein konnte. Ich persönlich kenne diesen Zustand vor allem beim Tanzen, aber auch beim Singen.
Doch diesen Zustand im Musizieren zu erreichen, fällt uns nicht immer ganz leicht. Oft sind wir so geprägt durch richtig und falsch, durch die Ästhetik und die teils sehr hohen Ansprüche an uns selbst und andere. In diesem Dilemma, wo unser Kopf ständig mit Bewertungen beschäftigt ist, ist es schwer, noch auf sich zu hören. Denn wenn wir uns bewerten, fühlt es sich an, als ginge es ums Überleben. Und die Sinne in einer solchen Situation mitzunehmen, scheint manchmal unmöglich.
Stimme, Sehen und unsere Augen – Funktion beim Chorsingen
Nun arbeiten wir beim Singen vor allem viel mit dem Hören, aber in diesem Kurs machten wir Übungen, die mit dem Sehen verbunden waren. Denn gerade im Chor sind wir viel mit unseren Augen beschäftigt. Wir schauen in die Noten, lesen dort den Notentext, aber natürlich auch den Text unter den Noten, wir schauen zur Dirigentin, um ihre Signale für die Interpretation aufzufangen. Unsere Augen sind sehr aktiv.
Das bedeutete für mich, auf die verschiedenen biologischen Notwendigkeiten des Sehens Bezug zu nehmen, als da wären: Orientierung über die Augen, Kontakt mit anderen über Augenkontakt, Fokussieren, wenn wir eine Gefahr genau erkennen müssen, den Blick weit stellen, wenn es um das allgemeine Abchecken der Umgebung geht. All das wird in unserem Hirnstamm gesteuert.
Und es ist gut, wenn wir diese Fähigkeiten auch für das gemeinsame Musizieren einsetzen können.
Auswendig singen oder nicht auswendig singen – das ist hier die Frage
Ich ließ die Sänger:innen die gleiche Phrase zuerst mit Schauen in die Noten und dann auswendig singen. Der Klangunterschied war erstaunlich. Selbst wenn sie das Stück auswendig konnten und gar nicht mehr wirklich lesen mussten, allein die Möglichkeit, Worte und Buchstaben zu erkennen, veränderte den Klang. Eine interessante Erfahrung, denn je nachdem, wohin wir unsere Augen richten, auf welche Art wir mit uns im Schauen verbunden sind, werden unterschiedliche Gehirnzentren angesprochen. Die Klanglichkeit wird mehr angeregt oder das Sprachzentrum bekommt mehr Aktivität und das macht etwas mit dem Klang.
Fokussierter oder weicher Blick – die Augen machen einen Unterschied
Ein ähnliches Phänomen konnten wir beobachten, als es um den Blick zur Dirigentin ging. Schaue ich auf die Dirigentin mit der Idee, auf keinen Fall ein Signal verpassen zu wollen? Nutze ich den sehr fokussierten Blick?
Oder lasse ich meine Augen in den Höhlen ruhen, lasse die Bilder in mich hinein strömen, anstatt angestrengt heraus zu schauen? Was geschieht, wenn ich diesen eher unfokussierten Blick, den eher aufnehmenden, rezeptiven Blick nutze, um zu sehen, was die Dirigentin für Signale gibt?
Vielleicht könnt ihr euch denken, was passierte, als die Gruppe darauf vertraute, dass der weiche, weite Blick ausreichte, um alle Signale, die man brauchte aufzunehmen. Der Klang wurde voller und weicher, der Chor sang auf einmal mehr zusammen, die gemeinsame Sprache war nicht mehr mühsam und es entstand ein ganz anderer mimischer Ausdruck im Chor. Der Zusammenhalt zwischen den Sänger:innen fühlte sich auf einmal anders an, wie im Nachgespräch heraus kam und auch das körperliche Empfinden war angenehmer. Und die Atmung reagiert prompt. Ich konnte es selbst beim Schreiben bemerken, dass sie auf einmal tiefer und leichter wurde, ganz von allein.
Stimme und Autonomes Nervensystem
All das über die Augen? Wie kommt es dazu?
Wenn wir davon ausgehen, dass die Augen Teil unseres Systems für Schutz sind, dann haben wir über sie ein Tor, was uns mit dem Social Engagement System verbinden könnte. „Social engagement“ würde man in diesem Zusammenhang in etwa mit „soziale Verbindung“ übersetzen. Es ist ein Terminus, den Stephen W. Porges geprägt hat und es bedeutet, uns im weitesten Sinne sicher zu fühlen mit uns und anderen.
Und das ist ein Zustand, den wir nicht immer haben. Denn wir können auch im Kampf-Flucht Modus sein. Die Augen sind geschärft, wir schützen uns vor Gefahr, wir orientieren uns, ob wir überhaupt sicher sind, wir gehen auf Nummer sicher, wie man so schön sagt.
Unser gesamter Nervensystem-Zustand ist also ein anderer und das hören wir den Stimmen an. Und natürlich fühlen wir diesen Zustand bei uns selbst, wenn wir singen.
Wir haben viel experimentiert an diesem Wochenende. Vor allem mit dem weichen Blick und seiner Auswirkung auf alle Ebenen der Stimme.
- Wie leicht konnten die Stimmen ansprechen?
- Wie differenziert bewegte sich die Artikulation?
- Wie sehr konnte der Chor zusammen sprechen, ohne dass überhaupt Signale von mir als Dirigentin kamen?
- Was für Gefühle kamen hoch, wenn jeweils zwei Sänger:innen sich beim Singen anschauten?
- Wie veränderte sich das Vibrato?
- Wie waren die Vokalfarben?
- Und wie veränderte sich das Gemeinschaftsgefühl in der Gruppe, die ja nur für diese zwei Tage zusammen kam?
Zwei wesentliche Dinge für die Stimme an diesem Wochenende
Wir haben uns an diesem Wochenende immer wieder Fragen gestellt über den Zusammenhang von Stimme, Sehen und Augen. Durften die Augen entspannt und gleichzeitig lebendig in ihren Höhlen liegen und durfte uns das Gesehene einfach ins Auge fallen? Oder waren die Augen aktiv beschäftigt nach draußen zu schauen, etwas ins Auge zu fassen?
Die stärkere und dominante Aktivität vom parasympatischen oder sympathischen Nervensystem ist hör- und fühlbar.
Und auch das auswendige Singen versus Singen mit dem Schauen in die Noten machte einen sehr großen Unterschied. Denn sobald wir Text in den Noten haben, auf den wir schauen sind unser Wernicke und Broca Areal im Gehirn aktiv. Das sind die beiden Gehirnzentren, die mit Sprache, Spracherkennung und Sprachverarbeitung beschäftigt sind. Und damit sind die Klangzentren nicht mehr so stark im Vordergrund und das wird hörbar.
Und das Ende vom Lied war…
Wir alle waren am Ende dieses Workshops sehr berührt von den Erlebnissen, wir fühlten uns als Gruppe verbunden, wir liebten den Klang und die Musik, die wir geteilt hatten. Und wir waren glücklich, mit einem Chor so Musik machen zu können. Der emotionale Ausdruck der Stücke hatte sich komplett geändert. Es wurde so klar für alle: die Stimme reagierte auf das Sehen und unsere Augen.
Und wir waren uns einig: so ist das Chorsingen eine tiefe seelische Befriedigung. Das Social Engagement System in Aktion mit Bach und Orlando di Lasso. Was für eine großartige Gemeinschaft.
Stimme, Sehen und die Augen – ein Vorschlag zum selber ausprobieren
Probiert es doch beim Üben das nächste Mal aus.
- Was passiert, wenn es sich deine Augen in den Höhlen gemütlich machen, wie auf einem Sofa?
- Wie ist es beim Singen mit unfokussiertem Blick aus dem Fenster zu schauen?
- Wie fühlt sich dann die Atmung an?
- Und was nimmst du an deinem Klang wahr?
Sei neugierig, ob du Verändungen spüren kannst.
Und ich bin sicher, das geht in jeder Art von Musik. Musik wird sich immer verändern, besonders unsere Stimmen werden sich immer verändern, wenn wir uns mit dem Social Engagement System verbinden und das sichere Miteinander mit im Boot ist.