Ich beginne meinen Artikel mit einer Provokation und behaupte:

Twang im Gesang ist Geschmackssache.

Und lege gleich nochmal nach:

Twang beim Gesang ist nicht notwendig.

Es gibt keinen notwendigen Twang.

Ist das auch provokativ? Immerhin gibt es mittlerweile viele Sänger:innen und Pädagog:innen in unserer Zeit, die sagen, Twang sei notwendig, in der Popularmusik sowie auch in der Klassik.

Und das sehen wir anders. Wir haben andere Erfahrungen gemacht und noch viel wichtiger:

Wir arbeiten anders. Denn Twang ist für uns ein Stilmittel,  nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Ach ja, wir sollten in dieser Einleitung die Aussage nicht vergessen, die wir immer wieder hören und lesen: Es gibt DEN Twang. Wollt ihr wissen, was wir dazu denken?

Die perfekte Ulla Keller-Antwort

Aber vielleicht ist das Ganze auch nur eine Begriffsverwirrung. Starten wir also gemeinsam in die Reise der Entwirrung und schauen uns genauer an, was Twang sein könnte.

Twang als Frequenzbeschreibung

Wann sprechen wir von Twang?

Wir könnten sagen: Twang ist eine Frequenzbeschreibung.

Was meinen wir damit? Ein Gesangston setzt sich aus unglaublich vielen verschiedenen Frequenzen zusammen. Wenn es nicht so wäre, würde unser Gesang wie ein Sinus Ton auf dem Computer klingen und das fänden wir alle nicht sonderlich schön.

Sind also in einem Klang sehr viele Frequenzen enthalten, stellt sich die Frage: Welche dieser Frequenzen ist besonders verstärkt in unserem Resonanzraum, so dass wir sie sehr gut hören? Und dann schließt sich die nächste Frage an: Wie machen wir das? Wie nehmen wir denn Einfluss auf die Gestalt unseres Resonanzraums, unseres Vokaltrakts?

Twang und Sprache

Nähern wir uns als Erstes über die Sprache. Da können wir feststellen, die Frequenzen, die wir beim Twang suchen, kommen im Englischen, vor allem im amerikanisch geprägten Englisch vor. Deshalb wundert es auch nicht, dass der Begriff von dort kommt und erst später hier nach Deuschland eingewandert ist. 😉

Allerdings ist natürlich auch dort eine große Vielfalt an Akzenten oder eher Dialekten zu finden. Wenn ihr das näher anhören wollt, heißt unser heißer Tipp Fred Armisen. Er kann unglaublich viele amerikanische Dialekte sprechen und unterscheiden. Schaut mal hier auf YouTube.

Im Deutschen haben wir in den Vokalfarben innerhalb der Sprache diese Frequenzen eher nicht. Ausnahmen stellen manche Dialekte dar, wie Sächsisch oder auch Hamburgerisch beispielsweise.

Und dann kommt es uns manchmal vor, als ob jemand mit Akzent sänge, wenn in deutschsprachigen Musicals mit viel Twang gesungen wird. Irgendetwas an den Vokalfarben klingt dann für uns anders, als wir es aus unserer Muttersprache kennen.

Werfen wir noch einen Blick auf die Terminologie, die manchmal recht verwirrend sein kann.

Hypernasalität und der Hyponasalität.

In den deutschen Beschreibungen bedeutet Hypernasalität, dass du viel (hyper) Luft durch die Nase fließt. Und Hyponasalität also das Gegenteil: Es fließt zu wenig Luft durch die Nase. Das klingt dann eher nach einem Stockschnupfen, wo die Nase so geschlossen ist, dass ihre Frequenzen im Klang komplett fehlen.

Die internationale Beschreibung ist anders, denn sie geht von Frequenzen aus.

So weit, so sprachlich.

Und jetzt: Twang im Gesang

Gehen wir noch etwas tiefer hinein und schauen auf den Gesang. Denn das ist das Gebiet, wo wir uns vor allem für Twang interessieren.

Und da kommt auch gleich die Frage oder Debatte auf, ob Twang etwas mit Nasalität im Sinn von nasal oder näselnd zu tun hat. Auch auf diese Fragen können wir eine Menge Ansichten bei Logopäd:innen und Gesangspädagog:innen finden. Unsere Idee sieht so aus:

 

Frequenzbereiche beim Twang und der Nasalität im Allgemeinen

Jo Estill sprach seinerzeit von oral und nasal Twang. Das ist eine gute und sinnvolle Unterscheidung. Dabei meint “nasal”, dass die Frequenzen im Nasenraum entstehen, der weiche Gaumen also geöffnet ist. Im Gegensatz dazu entstehen die Frequenzen bei “oral” im Mundraum und der weiche Gaumen ist geschlossen.

Wir verwenden auch den Begriff “nasal”, wenn der weiche Gaumen eine Öffnung hat und “näselnd” bezeichnet den Klang, die Frequenzen, wenn der weiche Gaumen den Nasenraum abschließt. Das macht einen großen klanglichen Unterschied. Aber auch vor allem in der Funktionsfähigkeit.

Ist der weiche Gaumen zu weit gesenkt und der Nasenrachenraum deshalb zu weit geöffnet, fließt so viel Luft durch die Nase, dass wir keine Stabilität mehr im Vokaltrakt haben, die Resonanzeigenschaft deutlich gestört sind und wir nur noch recht leise und kraftlos singen können. Dann haben wir einen pathologischen Zustand.

Öffnen wir allerdings nur ein klein wenig, kann es gerade in den hohen Lagen, wenn wir als Frauenstimmen in Richtung Belting gehen zu einer deutlichen Entlastung der Stimme kommen und da ist die leichte Öffnung sehr hilfreich.

Kleines Experiment

Wollen wir erkennen, ob Luft durch die Nase fließt, der weiche Gaumen also geöffnet ist, können wir das einfach testen. Wir singen einen Ton auf einem Vokal und halten die Nase zu. Klingt es anders, wenn die Nase zugehalten ist? Können wir unter Umständen einen leichten Druck in Richtung unserer Nase fühlen, wenn wir sie zuhalten?
Ja? Dann wissen wir, dass unser weicher Gaumen geöffnet ist.

Noch mehr Fragen zum Twang

Gibt es einen Unterschied zwischen Twang und Stimmsitz? Ist das vielleicht die Verwechselung? Denn was wollen wir mit einem Stimmsitz bezwecken und was mit dem “notwendigen” Twang? Welche Frequenzen werden angestrebt und warum? Doch zum Stimmsitz schreibe ich zu gegebener Zeit einen eigenen Blog Artikel.

Eins können wir auf alle Fälle sagen: wir arbeiten nicht über Imitation.

Bei uns findet man keine schnatternden Enten und kichernden Hexen, die es gilt in ihren Frequenzen zu imitieren. Auch wenn das sehr lustig ist und manchmal recht schnell geht.

Twang bei Hexe und Ente

Die Twang Arbeitsweise bei Voice Experience

Doch unabhängig, welche Terminologie die ist, die benutzt wird, unabhängig wie wir all diese Fragen beantworten, möchte ich etwas über unsere Arbeitsweise erzählen.
Denn all diese klanglichen Phänomene, diese Frequenzen entstehen durch die Zusammenarbeit zwischen weichem Gaumen und Zunge.
Beide sind sehr bewegliche Teile innerhalb unseres Mund- und Rachenraums, so dass wir sie sehr differenziert bewegen können. Und sie haben einen starken Einfluss auf den so genannten Aryepiglottischen Sphinkter. Denn oft wird gesagt: wir müssen einfach mit dem AES (Aryepiglottischen Sphinkter) arbeiten. Aber durch was genau beeinflussen wir ihn denn? Das ist doch die wichtige Frage.
Die Epiglottis ist unser so genannter Kehldeckel und die liebevoll kurz genannten Arys sind unsere Stellknorpel, die dafür sorgen, dass sich die zwei Stimmlippen aufeinander zu und weg bewegen können. Zwischen diesen beiden ist ein Raum, der veränderbar ist und damit natürlich unterschiedliche Frequenzen produzieren kann. Und eben auch genau unsere Twang Frequenzen.
Und wer kann diesen Raum gut beeinflussen? Was meint ihr?
Ganz genau, die Zunge.
Denn die könnte mit ihrem hinteren Teil den Raum zuschieben oder eben auch erlauben, dass er öffnet.
Zunge, Rachenraum, AES
Und wenn wir also – so wie bei uns üblich – erst einmal nicht von der Ästhetik ausgehen, dann haben wir unendlich viele Möglichkeiten der Bewegung und damit der Frequenzdifferenzierung.
Da wird dann schon die eine oder andere Frequenz dabei sein, die den Twang charakterisiert, den wir persönlich uns wünschen. 😉
Und wir sind in der Lage, den Klang, den eine spezielle Rolle von uns verlangt zu wählen. Denn natürlich charakterisieren wir über mehr oder weniger twangigen Klang auch verschiedene Rollen. Und damit werden wir sehr vielseitig und können spielen.
Wenn wir uns darüber im klaren sind, dass es sich um differenzierte Bewegungen handelt, dann ist all das lernbar. Und zwar nicht zwingend über Imitation, sondern über Eigenwahrnehmung. Und damit können wir es auch als Gesangspädagog:innen und Vocal Coaches anwenden und lehren.

Praxis für dich: Bewegungsmuster der Zunge erspüren

Bewegungsmuster der Zunge lassen sich einfach und komplex untersuchen:
Gehe von einem geöffneten Vokal A zu einem Ä – was bewegt sich? Die Zunge
In welche Richtung bewegt sie sich? Zu Ä nach oben
Ist das eher eine Bewegung der ganzen Zunge oder nur des mittleren hinteren Teils der Zunge?
Und so weiter. Das sind Fragen, die wir uns und unseren Sänger:innen stellen können, um eine Empfindung für Zungenaktivität zu bekommen.
Und wenn wir den Unterschied in der Position des weichen Gaumens erforschen möchten, können wir mit einer ganz einfachen Übung spielen. Wir singen eine offenes O, wie wir es im Deutschen aus dem Wort “Morgen” kennen und dann wechseln wir zur Vokalfarbe des offenen O’s im Wort “Morning”. Und sofort können wir einen Unterschied spüren, weil sich der weiche Gaumen anfängt zu verändern. Dann können wir auch verstehen, warum bei manchen Menschen das Englische so deutsch klingt und bei anderen nicht.
Nasalierung ist hier das Zauberwort.

Der Weg durch die Wahrnehmung

Wir gehen also Schritt für Schritt durch die Wahrnehmung der Bewegungen, die uns dorthin führen, wo wir hin möchten. Dadurch wird unser Sound vielfältiger und gleichzeitig persönlicher.
So kann man hervorragend methodisch und pädagogisch strukturiert arbeiten. Und dieser funktionale Weg unterscheidet sich sehr von vielen anderen Schulen, die ausschließlich über Imitation und Bilder arbeiten.

Zwei lustige Leckerbissen zum Nachtisch

Zum Abschluss möchte ich ein wunderbares Bonmot (sprich dieses Wort bitte wunderschön französisch nasal aus 😉) nicht vorenthalten, was ich durch Zufall bei Günther Habermann fand.
Dieser Mann ist immerhin eine Institution, was die Sprache angeht. Was hat er über Nasalität zu sagen:
“Nach TROJAHNS sprachpsychologischen Untersuchungen ist ein Näselklang, sofern er nicht in natürlichen sprachlichen Strukturen begründet ist…. der Ausdruck des Sinnlichen, der körper-tierischen Grundlagen im Menschen. Er findet sich vornehmlich bei Affekten, die mit Sinnesreizen des Getasts (Sinnesorgan für haptische Eindrücke, Anm. der Autorin) und Geschmacks verknüpft sind. So findet sich ein gehäuftes Vorkommen nasalierter Vokale und Halbkonsonanten (ng) und des Näselklangs ganz allgemein beim Lachen von Männern wie Frauen, wenn diesem eine sexuell betonte und frivole Tendenz zugrunde liegt…Auch beim sinnlichen Lachen findet sich eine deutliche Oberton-Teilkonzentration bei 2000 Hz.
(Quellenangaben: Auszug aus Günther Habermann, Stimme und Sprache.)
Und er empfiehlt übrigens genau wie wir einen einfachen Test, ob der nasale Klang durch ein geöffnetes Gaumensegel kommt: Singen auf Vokal, dann den gleichen Ton, den gleichen Vokal und dabei die Nase zuhalten. Ändert sich der Klang, dann kannst du davon ausgehen, dass dein weicher Gaumen den Nasenraum nicht abgeschlossen hat.
Und manchmal können wir es bei Voice Experience einfach nicht lassen, doch mal eine Übung mit hinein zu nehmen, die auf Imitation beruht. Ihr seht, Ausnahmen bestätigen die Regel. Besonders wenn wir eine solche Meisterin ihres Fachs dabei haben. Die Kollegen von ihr sind oft ganz neidisch. Denn jahrelang haben sie nun ihre Instrumente geübt, Skalen im Jazz geprobt und da packt sie einfach ihre Nasentrompete aus und das Publikum tobt.
You want to hear Ulla Keller with her special nose trumpet? Just come with us to Instagram and look here.

 

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