Warum könnten wir uns zum Thema Singen für das Dreiteilige Gehirn interessieren?

Für uns Gesangslehrer:innen ist das Verständnis über das Dreiteilige Gehirn beim Singen sehr nützlich, wenn wir unsere Schüler:innen verstehen und dort abholen wollen, wo sie stehen. Das ist mehr und mehr etwas, was sich eigentlich alle Vocal coaches und Gesangspädagog:innen von sich selbst wünschen. Und was sie übrigens auch im eigenen Unterricht gern erleben möchten.
Und um zu verstehen, was dafür nötig ist, ist Wissen über Kommunikation, aber eben auch ein grundlegendes Wissen um die Funktion unseres Gehirns von Vorteil.

Gehirn als Gewichtheber

Wissen um das Gehirn lässt unsere Stärken im Gesangsunterricht deutlicher werden

Die Gehirnforschung ist seit etlichen Jahren ein Wissenschaftsgebiet, der auch in der breiten Gesellschaft angekommen ist. Da wir alle keine Neurolog:innen sind, ist es wichtig, nach Erklärungen zu suchen, die man auch als Laie gut verstehen und nachvollziehen kann.
Denn etliche von den Theorien können uns in unserer Arbeit, gerade als Gesangslehrer:innen unterstützen. Wir haben uns viel mit dem Autonomen Nervensystem beschäftigt und dabei ist die Kenntnis der Gehirnstrukturen etwas, was uns das Verstehen leichter macht.
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Das Dreiteilige oder Dreieinige Gehirn nach Paul MacLean

Paul MacLean hat das Gehirn auf drei Bereiche reduziert, um es anschaulich und grundlegend darzustellen. Wenn man es genauer anschaut, stimmt es an manchen Stellen mit der genaueren Evolution und dem aktuellen Wissen in der Hirnforschung nicht ganz überein, aber es erklärt trotzdem sehr übersichtlich und verständlich, in welchen verschiedenen Zuständen wir uns befinden können und was dann der Blickwinkel auf alles, was wir hören, sehen und erleben ist.
Ich nutze  das Modell von Paul MacLean sehr gern in meinen Erklärungen.

Darstellung Dreiteiliges Gehirn

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Aufbau Dreiteiliges Gehirn: 1. Hirnstamm

Von der Phylogenese aus gesehen, ist der älteste Teil unseres Gehirns der Hirnstamm, das Reptiliengehirn. Zum Hirnstamm zählen wir das verlängerte Rückenmark (Medulla oblongata), den Pons (Brücke) und das Mesencephalon (Mittelhirn).
Dieser tiefe Teil des Gehirns steuert die wichtigsten Überlebensfunktionen.
Hier wird die Verdauung geregelt, der Schlaf, das Herz-Kreislauf System, die Atmung. Hierbei kommen Reflexe und Instinkte ins Spiel. Der Hirnstamm wirkt auch an der Koordination und Modulation von Bewegungen mit, sowie an der unwillkürlichen Regulation der Stütz- und Gangmotorik.
Man könnte allgemein sagen, der Hirnstamm ist wesentlich für unsere grundlegenden Körperfunktionen, die wir autonom steuern, ohne darüber nachzudenken zuständig. Es ist ein sehr einfacher Teil des Gehirns, der alles regelt, aber enorm wichtig für unser Überleben ist.
Und er kennt nur zwei Zustände: alles ist gut oder es droht Gefahr.
Ist alles gut, ist alles gut.
Droht aber Gefahr, kommt der Kampf-Flucht Reflex ins Spiel. In diesem Zustand haben wir eine hohe sympathische Enervierung. Wenn in einer Situation klar werden sollte, dass weder Kampf noch Flucht funktionieren, kommt ein Teil der parasympatischen Enervierung dazu und bremst alles bis auf die Grundfunktionen hinunter. Wir würden dann in Richtung Immobilität gehen, würden zum Beispiel ohnmächtig werden oder dissoziieren.
Die Reihenfolge wäre: erst versuchen wir zu kämpfen oder zu fliehen, wenn das nicht klappen sollte, dann käme die Immobilität.

Beispiel aus dem Gesangs-Alltag – Reptiliengehirn:

Wir alle kennen wahrscheinlich diese unangenehmen Zustände bei großem Lampenfieber, die wir auf der Bühne schon erlebt haben. Sie geschehen oft kurz vorher, noch auf der Seitenbühne stehend und auf den Auftritt wartend. Eine Empfindung von: gleich falle ich in Ohnmacht. Die Knie sind weich, ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten. Dann auf der Bühne stehen, ganz automatisch etwas machen und erst mit der Zeit, mit jeder weiteren Atmung stellte sich dann ein Gefühl ein, wieder ein wenig Kontrolle zurück gewonnen zu haben und dann begann der Spaß und die Gestaltungsfähigkeit beim Tun.
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Aufbau Dreiteiliges Gehirn: 2. Limbisches System

Wenn wir uns den nächsten phylogenetischen Bereich ansehen, haben wir das Limbische System, das sehr verschiedene Strukturen enthält.

Limbisches System

Die Elemente des Limbischen Systems (Abb. Blausen.com staff (2014), bearb. H. Knies)

Auch der Terminus “Limbisches System” ist eine Bezeichnung, die mittlerweile durch die Gehirnforschung kritisch gesehen wird. Er enthält sehr viele Gehirnareale (siehe Abb.), die funktionell miteinander verbunden sind, so dass es nicht einfach ist zu definieren, was ganz genau alles dazu gehört.
Man könnte allgemein sagen, hier werden unsere Emotionen gesteuert.
Und auch das Gedächtnis ist Teil des Limbischen Systems.
Ein wesentlicher Teil ist der Hippocampus, in dem Informationen aus den sensorischen Systemen zusammen fließen. Er geht einher mit der Konsolidierung der Gedächtnisinhalte vom Kurz- zum Langzeitgedächtnis und ist damit dafür zuständig, dass wir uns Dinge räumlich und zeitlich merken können.
Damit wird klar, dass Lernen immer mit der Sensorik zusammen hängt: wie sehe ich etwas, wie hört es sich an, wie riecht es, wie fühlt es sich an und auch wie schmeckt es?
Es gibt also eine enge Zusammenarbeit von Emotion, Sensorik und Gedächtnisleistung.
Und sie müssen sogar zusammen arbeiten, damit wir uns bestimmte Dinge überhaupt erst merken können. Es gibt in diesem Sinn kein objektives Lernen, was ohne Emotion wäre, also nicht “verfälscht” ist. Das ist ein hypothetischer Zustand, der mit Menschsein nichts zu tun hat.
Noch ein wesentlicher Teil des Limbischen Systems ist die Amygdala. Sie spielt eine wichtige Rolle in der Bewertung und Wiedererkennung von Situationen. Ist es sicher? Bin ich hier sicher? Sie löst also auch Angst-Reaktionen aus, wenn sie Gefahr entdeckt.
Hier sind wir in einem sehr komplexen Bereich, der für das Zusammenleben von Säugetieren eine wichtige Rolle spielt. Dieser Teil hat eine große Relevanz für Bindungen jeglicher Art.

Beispiel aus dem Gesangs-Alltag – Limbisches System:

Auch das ist uns aus dem Gesangsunterricht sicherlich bekannt. Die emotionale Seite ist enorm wichtig. Wenn uns die Lehrerin mit einem Tonfall anspricht, der uns ständig in Unsicherheit bringt, wir das Gefühl haben, wir machen Vieles falsch und können kein zufriedenstellendes Ergebnis abliefern, werden wir uns nicht öffnen können und unsere stimmliche Leistung wird leiden. Denn was ich lerne hängt mit den Gefühlen zusammen, die ich dabei erlebe. Es gibt kein objektives Lernen ohne Gefühlsanteile.
Aber auch umgekehrt ist die emotionale Seite wichtig. Haben wir Schüler:innen, die uns immer aggressiv und misstrauisch gegenüber sind, so fühlen wir uns auch mit ihnen nicht sicher und nicht wohl. Wir können unserer Intuition und unserem Wissen dann nicht mehr vertrauen, weil wir die meiste Zeit damit beschäftigt sind, uns zu schützen. So können wir auch für unsere Schüler:innen nicht das optimale Ergebnis liefern.
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Aufbau Dreiteiliges Gehirn: 3. Neocortex

Jetzt betrachten wir die nächste Ebene und kommen zur Großhirnrinde oder zum Neocortex. Das beinhaltet die beiden Gehirnhälften. Sie verbinden uns in gewissem Sinn mit unserem Bewusstsein.

Gehirnloben, verschiedene Gehirnlappen, Corpus Callosum, Dreiteiliges Gehirn

Die verschiedenen Gehirnlappen, Corpus Callosum (der Balken)(Abb. CANVA, Text: H. Knies)

Entwicklungsgeschichtlich ist es der jüngste Teil unseres Gehirns. Hier haben wir die Wahrnehmungsverarbeitung all dessen, was an Informationen ankommt. Hier denken wir auch, versachlichen uns und es ist zu einem großen Teil der Sitz der Willkürmotorik: ich gehe auf dich zu, ich möchte Kontakt. Oder auch: ich haben Hunger, ich gehe zum Kühlschrank.

Denken, Sprache und Gehirn

Denken hat mit Sprache zu tun. Und Sprache ist ein sehr interessantes Phänomen, denn mit unserer Sprache, der Wahl der Worte können wir die verschiedenen Hirnregionen deutlich ansprechen.
In der Wortwahl kann ich eher auf das Reptiliengehirn zugreifen, indem ich sehr einfache, kurze, klare Sätze spreche, natürlich auch gekoppelt mit einer bestimmten Prosodie, die Sicherheit vermittelt. Dazu mehr in dem Blog Artikel über die Polyvagaltheorie (im Moment noch auf meiner to-write Liste 😉 ) und das Social Engagement System.
Nutze ich hingegen mehr Worte, die emotional codiert sind, werde ich Teile im limbischen System ansprechen. Das kann hilfreich, aber auch heikel in einer Unterrichtssituation sein, denn wir wissen nie genau, wie die Begriffe oder emotionalen Bilder beim Schüler codiert sind. Das bedeutet, an der Stelle sollten wir gut wahrnehmen, wie unsere Schüler:innen darauf reagieren.

Beispiel aus dem Gesangs-Alltag – Neocortex:

Sobald der Neocortex ins Spiel kommt, geht es um die Erklärung und Erkenntnis komplexer Zusammenhänge und Theorien. Hier sind wir fähig zur Konzeptbildung, was im Gesangsunterricht eine große Rolle spielt, wenn wir unsere Lernschritte integrieren und abrufbar gestalten wollen.
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Kleine Zusammenfassung:

Unser Reptiliengehirn ist zuständig für unsere Sicherheit und die grundlegende Verwaltung unserer Lebensfunktionen, das Zwischenhirn mit dem Limbischen System für unsere hormonellen und emotionalen Zustände, die wir erkennen in Bezug zu uns selbst und was unsere sozialen Beziehungen abbildet und gestaltet. Im Neocortex befinden sich wesentliche Teile unseres Gesamt-Ichs und auch die Möglichkeit für Konzeptbildung.
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Zusammenarbeit im Dreiteiligen Gehirn

Günstige Regelung in einem Zustand der Sicherheit

Normalerweise arbeiten die drei Bereiche wunderbar zusammen. Das ist uns nicht bewusst. Wir haben den Thalamus, der Unmengen von Sinneseindrücken im Limbischen System verarbeitet, die im Hippocampus dann zwischengelagert werden. Im Neocortex werden die Zusammenhänge hergestellt und es findet eine Speicherung statt, so dass wir es später auch abrufen können.

Ungünstige Regelung in einem Zustand von Unsicherheit oder gar Angst

Wenn wir aber in großer Gefahr sind oder annehmen, dass eine Situation für uns gefährlich sein könnte, wird eine Art Notfallprogramm eingeschaltet. Die Amygdala wird Informationen an das Stammhirn schicken, damit die Überlebensfunktionen für Kampf und Flucht zur Verfügung gestellt werden können.
Und damit kommen all die Empfindungen von Hilflosigkeit und Ohnmacht ins Spiel. Oder ebenfalls die Erstarrungsreaktion. Leider wird hier auch die räumliche und zeitliche Einordnung außer Kraft gesetzt, so dass die Möglichkeit,  zusammenhängende Ereignisse später abzurufen, stark eingeschränkt bis unmöglich gemacht wird. Auch Versprachlichung wird schwierig bis unmöglich.
Die große Frage, die sich damit stellt ist, was wir tun können, worauf wir Einfluss haben, damit die drei Ebenen gut zusammen arbeiten können und wir sowohl leistungsfähig als auch in einem guten Zustand mit uns selber und in Gemeinschaft sind. Denn gerade beim Singen im Ensemble, mit einer Band, aber auch beim Musizieren im Orchester möchten wir uns wohl fühlen und gut miteinander musizieren können.
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Die Grundlage von allem ist Sicherheit

Was liegt in unserer Macht, uns selbst und anderen Sicherheit zu geben?
Der Zustand meines eigenen Nervensystems, den ich habe und ausstrahle bzw. direkt durch meine Wortwahl übertrage, durch meine Stimmgebung, durch die Prosodie wird immer einen immensen Einfluss auf andere Menschen haben, seien es Schüler:innen oder Freund:innen.
Und uns damit auseinander zu setzen, an der Regulierung meines eigenen Zustandes im Nervensystem zu arbeiten und zu forschen liegt in meiner eigenen Macht. Hier habe ich die Möglichkeit durch Selbsterfahrung, durch Supervision, durch Gespräche mit Kolleg:innen und guten Freund:innen, Veränderungen in mir zu erreichen. Oder als ersten Schritt überhaupt eine Einschätzung zu bekommen, wo ich mich selbst mit mir befinde.
Das ist ein sehr lohnender Schritt, denn er lässt uns auf der einen Seite aus unserer Komfort-Zone als Menschen und Gesangslehrer:innen heraus treten und ermöglicht uns auf der anderen Seite ein noch viel emphatischeres Sein und Arbeiten. Nicht nur wir selber werden uns mit uns selbst wohler und sicherer fühlen, sondern natürlich auch unsere Schüler:innen.

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